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Reflexive Innovation als zentrales gesellschaftliches Phänomen
Innovation war lange auf die Labors der Natur- und Technikwissenschaften, auf die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Wirtschaftsunternehmen und – weniger beachtet – auf die Ateliers der Künstler begrenzt. Heute sind die kreativen Praktiken und innovativen Prozesse zu einem ubiquitären Phänomen geworden, das alle Bereiche der Gesellschaft erfasst. Das Besondere an der Innovation besteht aktuell darin, dass die Herstellung des Neuen nicht mehr dem Zufall, den genialen Einfällen Einzelner und den kreativen Praktiken gesonderter Bereiche überlassen wird. Innovationen werden zunehmend mit Absicht, mit Bezug auf viele Andere und im Kontext allgemeiner Forderungen nach strategischer Herstellung von Neuem vorangetrieben. Sie werden als auf verschiedene Instanzen verteilte Prozesse koordiniert und mit Bezug auf das Handeln und Wissen der Akteure anderer Bereiche reflektiert. Reflexive Innovation meint das Zusammenspiel dieser Praktiken, Orientierungen und Prozesse, wobei der Verlauf der einen Innovation im Hinblick auf seine verschiedenen institutionellen Einbettungen, diskursiven Rechtfertigungen und im Hinblick auf Formen und Verläufe anderer Innovationen beobachtet, gestaltet und gesteuert wird. Sie macht weder vor den Laboren und F&E-Abteilungen halt – wie sowohl transdisziplinäre als auch regionale Innovationscluster aufzeigen – noch vor den Ausgestaltungen von Innovationsregimen. Innovationsgesellschaft heute zeichnet sich durch eine Vielfalt innovativer Prozesse auf allen Feldern und durch die Einheit des Imperativs zum reflexiven Innovationshandeln aus. Innovation ist in der Innovationsgesellschaft heute selbst Thema der Diskurse, und gesellschaftliche Neuerung durchdringt über eine „Culture of Innovation“ (UNESCO 2005: 57ff.; Prahalad & Krishnan 2008) hinaus reflexiv alle gesellschaftlichen Felder.
Die zentrale Frage des Graduiertenkollegs lautet daher: Wie
reflexiv wird das Neue heute in welchen Bereichen und verteilt auf
welche Akteure hergestellt? Thema des Kollegs ist also die Relevanz
der reflexiven Innovation in ihrer gesellschaftlichen Breite.
Gegenstand sind die Praktiken, Orientierungen und Prozesse der
Innovation auf ausgewählten Innovationsfeldern, wie sie innerhalb und
zwischen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft sich entwickeln und
strategisch vorangetrieben werden. Sie sollen nicht nur in den
klassischen Gesellschaftsbereichen der Wirtschaft (Industrie und
Dienstleistung) und der Wissenschaft (Forschung und
Technikentwicklung) untersucht werden, sondern auch in den Bereichen
der Kultur (Künste und kreative Kulturproduktion) und der Politik
(Politik- und Planungsprozesse). Analysiert werden soll, wie sich in
den letzten Jahrzehnten die Praktiken, die Diskurse und die
institutionalisierten Ordnungen der Innovation jeweils in Richtung
erhöhter Reflexivität verändert haben oder inwiefern einzelne
Fälle oder Verläufe von Innovation durch Neuerungen auf anderen
Feldern ermöglicht oder behindert wurden. Durch die empirischen
Studien auf den jeweiligen Feldern und durch den Vergleich zwischen
ihnen kann schließlich geprüft werden, inwieweit das Prinzip der
reflexiven Herstellung des Neuen nicht nur zu einem rhetorischen,
sondern auch zu einem praktischen und institutionellen Imperativ der
gegenwärtigen Innovationsgesellschaft geworden ist.
Aus diesem Grund verwenden wir einen im Vergleich zur
Ökonomie breiteren Begriff der gesellschaftlichen Innovation (Rammert
2010), der es uns ermöglicht, auch künstlerische, planerische oder
gestalterische Neuerungen aus Bereichen jenseits der wirtschaftlichen
Rechnung und Rechtfertigung der Innovation zu betrachten. Er geht auch
über den Begriff der „sozialen Innovation“ (Zapf 1989) und der
„politischen Innovation“ (Polsby 1984) hinaus, insofern er die
Wechselwirkungen und Konstellationen zwischen technischer,
ökonomischer und sozialer Innovation zum Thema macht. Im schon von
Ogburn (1922) und Schumpeter (1939) benannten Unterschied zum normalen
sozialen Wandel bezeichnet dieser Begriff das Neue, das nicht nur
geschieht und erst dann gefördert wird. Vielmehr geht es uns um die
absichtsvolle und systematische Herstellung neuer materieller und
nicht-materieller Elemente, technischer und organisatorischer
Verfahren und sozio-technischer Kombinationen da11 von, die als neu
definiert und als besser gegenüber dem Alten legitimiert werden. Im
Unterschied zum frühen Schumpeter bringt heute jedoch oft eben nicht
der einzelne Unternehmer als Entrepreneur das Neue hervor; Neues wird
vielmehr durch Kollektive von Akteuren verschiedenster Art (Teams,
Communities, Unternehmen, Netzwerke) erzeugt, die – wie machtvoll
und reflexiv auch immer – gleichzeitig nur begrenzt in der Lage
sind, den gesamten und auf heterogene Instanzen verteilten innovativen
Erzeugungsprozess zu steuern. Damit wird das Machen von Innovation
(„doing innovation“) selbst zu einem ausdrücklichen Gegenstand
der gesellschaftlichen Akteure, und zwar in Wissen, Diskursen,
Handlungen, Sozialsystemen und Institutionen. Das ständige
Reflektieren auf und über Innovation wird von umfassenden Diskursen
der Rechtfertigung begleitet, die von den Interessen der jeweiligen
Akteure und Akteursgruppen geprägt sind. Dabei kann es sich sowohl um
situative Erklärungen, organisationale und institutionelle Rhetoriken
als auch um verselbständigte Ideologien handeln. Sie knüpfen etwa an
moderne Fortschritts- oder Subjektivitätsvorstellungen (Reckwitz
2008: 235ff.) oder pragmatische Regimes der Rechtfertigung und Wertung
(Thévenot 2001) an, konstruieren Auffassungen, die Innovation als
notwendig erachten lassen, und befördern, dass in Innovationen
investiert wird, sodass sie tendenziell allen Akteuren als Imperativ
entgegentreten.
Die Forschungsfrage lässt sich jetzt noch ausführlicher
fassen: Wie reflexiv behandeln, definieren und organisieren die
Akteure heute die Innovation auf unterschiedlichen Innovationsfeldern
und welche Diskurse der Rechtfertigung orientieren ihre Praktiken und
Deutungen? Mit dieser Fragestellung wird ein spezifisch soziologischer
Zugang zur Innovation gesucht, in dem wissens-, technik-, wirtschafts-
und organisationssoziologische Fragestellungen prominent aufgegriffen
und kombiniert zur Geltung gebracht werden. Er wird allerdings auch
ergänzt und gestärkt durch ökonomische, historische, politische und
planerische Zugänge anderer Disziplinen.
Anders als in den Ingenieurwissenschaften geht es in unserem
Kolleg nicht allein um die Herstellung neuer Techniken, Verfahren oder
Materialien. Technische Innovationen in diesem engeren Sinn bilden
zwar einen relevanten Bezugspunkt, werden hier jedoch in ihren
Relationen zu nichttechnischen sozialen Neuerungen und in ihren
reflexiven Bezügen zu ökonomischen, politischen, kulturellen oder
künstlerischen Neuerungen erforscht. Anders als in den
Wirtschaftswissenschaften geht es auch nicht vorrangig um die
Herstellung effizienterer Faktorkombinationen und Prozessabläufe.
Dieser engere ökonomische Innovationsbegriff ist in seiner
praktischen Relevanz ein zentrales Referenzkonzept, wird hier jedoch
im Hinblick auf die anderen Bereiche erweitert und auf die Gesamtheit
der wechselseitigen Bezüge hin überschritten. So können sich
Innovationen auch im Bereich der Wirtschaft zunehmend auf verschiedene
Referenzen, z.B. der künstlerischen (Hutter & Throsby 2008) oder
der politischen Innovation, beziehen und sogar aus ihren
„Dissonanzen“ (Stark 2009) über Konflikte oder Kompromisse
neuartige gemischte Innovationsregime entstehen. Aus unserer breiteren
sozialwissenschaftlichen Sicht geht es vielmehr erstens um ein
Verständnis der auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche
verteilten und miteinander verbundenen Innovationsprozesse: Wie
gelingt es den unterschiedlichen Akteuren, das Neue unter Bezug auf
die bestehenden Handlungs- und Rechtfertigungsmuster reflexiv und
koordiniert herzustellen? Zweitens geht es um ein Verständnis von
Praktiken und Prozessen: Wie wird das Veränderte von den anerkannten
Institutionen in den jeweiligen Feldern als „neu“ ausgezeichnet
und als „Innovation“ gewertet? Dazu zählt auch die Machtfrage:
Warum, wann und in welchen Konstellationen sind welche Akteure und
Institutionen dazu in der Lage, etwas als Innovation zu definieren und
durchzusetzen?
Zu den einzelnen Feldern und Formen der Innovation liegt
bereits eine reichhaltige Forschungsliteratur vor (vgl. u.a. Rogers
2003; Braun-Thürmann 2005; Fagerberg et al. 2005; Aderhold & John
2005; Blättel-Mink 2006; Hof & Wengenroth 2007; Rammert 2008;
Howaldt & Jakobsen 2010). Die vorherrschend ökonomisch
ausgerichtete Innovationsforschung hat die Dynamik technischer
Innovationen vielfältig untersucht. Ihre Erklärungsmodelle bedingen
Gewinnmaximierung, rationale Wahlentscheidungen und transparente
Preissignale, aber 12 auch Einsichten in die Grenzen rationaler
Technikwahl und in den historischen oder evolutionären Charakter
langfristiger Technikentwicklung (vgl. u.a. Rosenberg 1976; Nelson
& Winter 1977; Elster 1983; Utterbeck 1994). Die am Management
orientierte Innovationsforschung hat die personalen und
organisatorischen Faktoren auf der Unternehmensebene (vgl. Gerybadze
2004; Gemünden et al. 2006) wie auf der von Unternehmensnetzwerken
(vgl. Sydow 2001) gründlich erforscht. Sie rückt Kreativität und
Kooperation, Vertrauen und heterogene Organisation in den Vordergrund.
Von den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Quellen der Innovation
hat sich neuerdings das Interesse zu anderen Gruppen, wie Nutzer,
Pioniergruppen und soziale Bewegungen hin ausgeweitet (Hippel 1988;
2005; Chesbrough 2006). Ergänzt werden die Forschungen dieser
Fachtraditionen in letzter Zeit auch angesichts des
technisch-wissenschaftlichen Wettbewerbs und der Notwendigkeit der
Ausgestaltung nationaler Innovationspolitiken um die Erkenntnis, dass
Innovationen neue Formen der Verausgabung von Arbeit (Barley 1990;
Barley & Kunda 2004) und der Ausbildung von Aktivitätsräumen
(Massey 1992; 1995; Moores 2005) von Individuen und kollektiven
Akteuren wie Organisationen einschließen und umfassender als
gesellschaftliche Phänomene mit nicht selten transnationaler
Reichweite zu untersuchen sind. Dazu bedarf es einer breiteren Rahmung
des Gegenstands und einer stärkeren Beteiligung anderer
sozialwissenschaftlicher Disziplinen. Entsprechend werden Innovationen
im Rahmen organisationaler Felder (DiMaggio & Powell 1983; Hoffman
1999) sowie nationaler Innovationssysteme und globaler
Innovationsregimes betrachtet (vgl. Nelson 1993; Edquist 1997; Braczyk
et al. 1998; Blättel-Mink & Ebner 2009). Innovationsverläufe
werden als Ergebnisse kultureller Konstruktionen und institutioneller
Selektion angesehen, in denen neben Unternehmungen vor allem auch
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Professionen eine prominente
Rolle spielen (Meyer et al. 1997; Meyer 2005; Fourcade 2009) und über
Kontinuität und Brüchen von Konstellationen unterschiedliche
Innovationsbiographien kreiert werden (Bruns et al. 2010). Auch die
ständige Versorgung mit Neuheiten in den kulturellen Bereichen und
den neuen kreativen Industrien wird studiert, um Transfers und
Wechselwirkungen einer sich permanent erneuernden modernen
Gesellschaft angesichts des Medienwandels einzubeziehen (Castells
1996; Florida 2002). Politikwissenschaftliche und soziologische
Governance- Forschung weiten den ökonomischen Fragehorizont aus
(Powell 1990; Kern 2000; Windeler 2001; Sörensen & Williams 2002;
Lütz 2006; Schuppert & Zürn 2008). Technik-, Wissenschafts- und
Wirtschaftsgeschichte verleihen der Innovationsökonomie die
notwendige historische Dimension (Wengenroth 2001; Bauer 2006; David
1975; Mowery & Rosenberg 1998). Eine speziell soziologische
Perspektive auf die Innovation hat sich bisher nur in Umrissen
abgezeichnet: etwa eine Übertragung von Konstruktions- und
Evolutionsmodellen aus der Technikgeneseforschung (Rammert 1988; 1997;
Braun-Thürmann 2005; Weyer 2008;), eine Fokussierung der
Organisations- und Netzwerkforschung auf Innovationsprozesse (Van de
Ven et al. 1989; 1999; Powell et al. 1996; Garud & Karnoe 2001;
Windeler 2003; Hirsch- Kreinsen 2005; Heidenreich 2009), oder die
Übersetzung von Modellen kreativer Produktion und kultureller
Innovation aus der Wissens- und Kultursoziologie (Popitz 2000;
Knoblauch 2010).
Mit der Einrichtung des Kollegs am Institut für Soziologie
der TU Berlin sollen die Praktiken und Prozesse der reflexiven
Herstellung des Neuen in den gemeinsamen Fokus der Forschung rücken.
Die vorhandenen Ansätze soziologischer und sozialwissenschaftlicher
Innovationsforschung sollen so gebündelt werden, um über die
breitere Zahl empirischer Studien auf verschiedenen Innovationsfeldern
in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und durch ihren
systematischen Vergleich auf Regeln und Regime reflexiver Innovation
hin eine umfassendere sozialwissenschaftliche Perspektive zu
entwickeln. Über sie sollen die kreativen Praktiken und innovativen
Prozesse detaillierter als bisher untersucht werden, wobei den
unterschiedlichen Regimes gesellschaftlicher Einbettung wie auch den
verschiedenen Wechselwirkungen zwischen ihnen stärker Rechnung
getragen werden soll. Damit setzt sich das Kolleg in eine produktive
Beziehung zu den stärker wirtschaftswissenschaftlich fokussierten
Kollegs „Die Ökonomik des innovativen Wandels“ (Nr. 1411) an der
Friedrich- Schiller-Universität Jena und „Pfade organisatorischer
Prozesse“ (Nr. 1012) an der Freien 13 Universität Berlin. Zum einen
greift es deren innovationsökonomische Konzepte auf und bringt sie in
einen Dialog mit den Einsichten anderer Disziplinen. Zum anderen
erweitert es ihre Forschungen um Studien zu gesellschaftlichen
Innovationen jenseits der technischwirtschaftlichen Dynamik von
Unternehmen, Märkten und Sektoren.
Darüber hinaus erwarten die TU Berlin und das Institut für Soziologie von dem Kolleg deutliche Impulse für die Weiterentwicklung von Lehre und Forschung. So verspricht sich das Institut durch die forschungsorientierte Nachwuchsförderung eine Verlängerung der begonnenen Fokussierung der Lehre auf Technik und Innovation im BA/MA-Studiengang „Soziologie technikwissenschaftlicher Richtung“. Zugleich würde durch das Kolleg die Integration seiner Fachgebiete gestärkt und der Kontakt zu Forschungsgruppen anderer Fakultäten an der TU Berlin und mit anderen Forschungseinrichtungen im Berliner Raum intensiviert, insbesondere zu den Wirtschaftswissenschaften und den Planungswissenschaften und zur Abteilung „Kulturelle Quellen von Neuheit“ des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin (WZB). Der Vergleich zwischen Innovationsprozessen und -kulturen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern soll den Horizont für neue Querbezüge öffnen und zukünftigen Kooperationen den Weg ebnen, die zu einem späteren Zeitpunkt dann auch den Berliner Kontext übergreifen. Zudem bietet das Kolleg die Chance, mit der Einrichtung eines Gastwissenschaftlerprogramms die bestehenden internationalen Kontakte zu intensivieren.