Inhalt des Dokuments
Jannis Hergesell
ehemaliger KollegiatTechnische Universität Berlin
Fakultät VI: Planen Bauen Umwelt
Institut für Soziologie
Fraunhoferstraße 33-36
Sekretariatszeichen FH 9-1
10587 Berlin
jannis.hergesell@tu-berlin.de
Tel.: | 73308 |
Raum: | FH 811 |
Technische Assistenzen in der Altenpflege – Eine historisch-soziologische Analyse zu den Ursachen und Folgen von Pflegeinnovationen
Eine der kontrovers diskutierten, ungelösten Herausforderungen moderner Gesellschaften im demographischen Wandel ist die Versorgung einer immer größer werdenden Anzahl von altersbedingt Pflegebedürftigen. Als Lösungsstrategie für den „Pflegenotstand“ wird von verschiedenen Akteuren die Implementierung von innovativen Pflegetechniken gefordert. Sowohl die finanziellen, personellen als auch ethischen Herausforderungen, vor denen die Gestaltung einer zukunftsfähigen Pflege steht, seien demnach durch Pflegeinnovationen zu bewältigen.Die Diskrepanz zwischen dem Lösungspotential für die Problemlage der Altenpflege, welches den Pflegetechniken diskursiv zugeschrieben wird, und den empirisch vorzufindenden Belegen für diese These ist jedoch erstaunlich groß. Bestehende Konzepte, welche die forcierten Bestrebungen die Pflege zu „technisieren“ erklären, können die außergewöhnlich rasche und erfolgreiche diskursive Etablierung der Pflegetechniken und ihre massive Förderung nicht fassen.Ausgehend von der Beobachtung, dass finanzielle, personelle und ethische Probleme in der geschichtlichen Entwicklung der Altenpflege nichts Neuartiges sind und “innovative“ Pflegetechniken in der Gegenwart noch keinen überzeugenden Nutzen haben, stellt sich die Frage: Warum werden gegenwärtig innovative Pflegetechniken als effektive und wünschenswerte Lösung für die Probleme der Altenpflege wahrgenommen und welche Folgen hat diese „Technisierung“ der Pflege?Zunächst wurden dazu in einer ethnographischen Primärerhebung in Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Demenz untersucht, wie innovative technische Assistenzen verwendet werden. Diese Ergebnisse wurden dann genutzt, um in einer historischen Rekonstruktion gezielt diejenigen Prozessgesetzmäßigkeiten zu analysieren, die zu der gegenwärtigen Forderung nach Pflegetechniken geführt haben. Der soziohistorische Zugriff auf diese Fragestellung ermöglicht es die Entwicklung der Altenpflege zu rekonstruieren, welche in Kausalität zu der aktuellen Forderung nach „Technisierung“ steht.Es zeigt sich, dass seit der Konstitution der stationären Altenpflege ein grundsätzlicher Konflikt zwischen ökonomischen, fachlichen und ethischen Wissensbeständen besteht, welcher die Entwicklung der Pflege prägt und in Verbindung mit dem Phänomen der innovativen Pflegetechniken steht. In der ca. 130 Jahre andauernden Geschichte der institutionalisierten Altenpflege konnten sich, je nach zeitgenössischem Kontext, verschiedene Akteure und Interessen bei den Problemdefinitionen und Lösungsstrategien in der Altenpflege durchsetzen. Die langfristige und wechselhafte Entwicklung des inhärent in die Strukturen der Altenpflege eingeschriebenen Konfliktes mündet in der aktuellen Situation, in der sowohl ökonomische als auch fachliche und ethische Aspekte bei der Bewältigung der gegenwärtigen Krise des Pflegenotstandes gleichberechtigt berücksichtigt werden müssen. Während in den vorherigen Phasen der Konfliktaushandlung einzelne Akteure ihre Interessen machtvoll durchsetzen konnten, ist nun auf Grund der nivellierten Machtbeziehungen der Akteure in der Altenpflege eine integrative Konfliktaushandlung notwendig. Eben jene Integration leistet die innovative Pflegetechnik zumindest auf diskursiver Ebene. Die große Prominenz von Pflegetechniken steht daher im Zusammenhang mit deren Anschlussfähigkeit an die historische Genese der Altenpflege und ihrer Eigenschaft als konsensfähige „Zukunftsvision“ für die Pflege im heutigen demographischen Wandel.Zusätzlich wird der derzeitige Erfolg von Pflegeinnovationen durch die Gegenwartsdiagnose der „Innovationsgesellschaft“ nachvollziehbar. Zeitspezifisch für die moderne Gesellschaft ist die Ausbreitung von Innovationen in alle gesellschaftlichen Teilbereiche. Dabei sind Innovationen als gegenüber dem Alten positiv konnotierte, verbesserte Neuheit zu verstehen. Es wird deutlich, dass die erfolgreiche Attribuierung von neuen Pflegetechniken als „innovativ“ ihre Wahrnehmung als begrüßenswerte, erfolgversprechende Lösungsstrategie bewirkt: Da Pflegetechniken als „innovativ“ gelten, werden sie als etwas prinzipiell Positives gedeutet und verfügen über einen Vertrauensvorschuss, gleichzeitig wird ihr Einsatz bemerkenswert wenig kritisch reflektiert.
Entgegen der postulierten Eigenschaften der Techniken lässt sich beobachten, dass in technisierten Pflegesituationen an ökonomischer Effizienz orientierte, standardisierte Pflegehandlungen zunehmen. Weniger relevant werden dadurch Pflegeauffassungen, die Altenpflege als soziale Beziehungsarbeit definieren, welche situativ und stets am Einzelfall auf Grundlage von fachlicher Expertise ausgeführt wird. Langfristig gesehen können Pflegetechniken so die Umdeutung von Pflege als sozialem Beruf hin zu einer stark auf grundpflegerische Aspekte fokussierten Dienstleistung bewirken. Da dieser Prozess im Pflegealltag meist nicht reflektiert wird und die neuen Pflegetechniken nur selten kritisch diskutiert werden, kann von einer „stummen Ökonomisierung“ der Altenpflege durch die neuen Pflegetechniken gesprochen werden.
Arbeitsschwerpunkte:
Gesundheitssoziologie, Soziologie der Behinderung, Historische Soziologie, Prozess- und Figurationssoziologie, qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung, soziale Ungleichheitsforschung
Publikationen:
Hergesell, Jannis (2018): Technische Assistenzen in der Altenpflege. Eine historisch-soziologische Analyse zu den Ursachen und Folgen von Pflegeinnovationen. Weinheim/Basel: Juventa
Deisner, Jana/Hergesell, Jannis/Maibaum, Arne (2018): Nutzerkonfiguration und konfigurierende Nutzer in ambulanten Pflegesettings. In: In: Weidner, Robert (Hrsg.): Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen. Konferenzband. Helmut-Schmidt-Universität: Hamburg, S. 25-33
Hergesell, Jannis/Maibaum, Arne (2018): Interests and Side Effekts in Geriatic Care. In: Weidner, Robert/Karafilidis, Athanasius (Hrsg.): Developing Support Technologies – Integrating Multiple Perspectives to Create Support that People Really Want. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 163-168
Hergesell, Jannis/Maibaum, Arne/Minnetian, Clelia/Sept, Ariane (Hrsg.) (2018): Innovationsphänomene. Effekte und Modi. Wiesbaden: Springer
Hergesell, Jannis (2018): Der Einfluss von assistiven Sicherheitstechniken auf Wissensbestände der Altenpflege – Zur Transformation von Deutungsmustern durch Innovationen. In: Hergesell, Jannis/Maibaum, Arne/Minnetian, Clelia/Sept, Ariane (Hrsg.): Innovationsphänomene. Effekte und Modi. Wiesbaden: Springer Verlag, S. 189-207
Hergesell, Jannis (2018): Technisierte Pflege als Figuration – assistive Sicherheitstechniken und die Pflege von Menschen mit Demenz. In: Wöhlke, Sabine/Palm, Anna (Hrsg.): Interdisziplinäre Perspektiven der Mensch-Technik-Interaktion in medikalisierten Alltagen: Göttingen: Universitätsverlag Göttingen, S. 91-103
Braunisch, Lilli/Hergesell, Jannis/Minnetian, Clelia (2018): Stumme Ökonomisierung – Machteffekte in Innovationsdiskursen. In: Zeitschrift für Diskursforschung, 2. Beiheft, S. 183-215
Hergesell, Jannis (2017): Assistive Sicherheitstechniken in der Pflege von an Demenz erkrankten Menschen. In: Biniok, Peter/Lettkemann, Eric (Hrsg.): Assistive Gesellschaft. Multidisziplinäre Erkundungen zur Sozialform "Assistenz". Wiesbaden: Springer VS.
Hergesell, Jannis/Maibaum, Arne (2016): Assistive Sicherheitstechniken in der geriatrischen Pflege. Konfligierende Logiken bei partizipativer Technikentwicklung. In: Weidner, Robert (Hrsg.): Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen. Konferenzband. Helmut-Schmidt-Universität: Hamburg, S. 59-69.
Hergesell, Jannis (2016): Gesundheit und Wissenschaftskarrieren. Zu den Folgen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Wissenschaft. In: Baur, Nina/Besio, Christina/Norkus, Maria/Petschick, Grit (Hrsg.): Wissen – Organisation – Forschungspraxis. Der Makro-Meso-Mikro-Link in der Wissenschaft. Weinheim: Beltz Juventa.
Vorträge:
11/2018: „Methodologie der Historischen Soziologie. Zum Zusammenhang der Geschichte der geriatrischen Pflege und der aktuellen Forderung nach technischen Pflegeinnovationen.“, Gesellschaft für Soziologie an der Universität Graz, Karl-Franzens-Universität Graz
09/2018: „Innovationsfeld Pflegerobotik“, Vortrag mit Arne Maibaum, 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologe „Komplexe Entwicklungen globaler und lokaler Entwicklungen“, Universität Göttingen.
09/2018: „Mental health in academic careers“, „7. Qualitative Research on Mental Health Conference. Qualitative Research in Mental Health: Rising to a Global Challenge“, Protestant University of Applied Sciences, Berlin.
09/2018: „Roboter für die Unterstützung älterer Menschen – strategische Interessen und Folgen“, Vortrag mit Arne Maibaum, „Gemeinsamer Jahreskongress der Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) und Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG), Vielfalt des Alters: biomedizinische und psychosoziale Herausforderungen“, Universität Köln.
11/2017: „Digitalisierung und Restrukturierung der Pflege“, Vortrag mit Arne Maibaum, gemeinsame Herbsttagung der Sektionen Organisationssoziologie und Wissenschafts- und Technikforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) „Digitalisierung und Restrukturierung“, Universität Stuttgart.
5/2017: „Zur Sozialität von assistiven Sicherheitstechniken. Methodologische-theoretische Konzeption“, Vortrag, Forschungsbereichstreffen „Wissensgesellschaft und Wissenspolitik“, Institut für Technikfolgenabschätzung, Karlsruher Institut für Technologie.
5/2017: „2030 – Der demografische Wandel als neue soziotechnische Deadline“, Vortrag mit Arne Maibaum, Tagung „2000 Revisited – Rückblick auf die Zukunft“, Karlsruher Institut für Technologie.
2/2017: „Soziale Dimensionen von Pflegetechnik – konfligierende Wahrnehmungs- und Deutungsmuster bei assistiven Sicherheitstechniken“, Vortrag, „Arbeitsgruppe Alter & Technik der Forschergruppe Geriatrie“, Charité Berlin.
12/2016: „Assistive Sicherheitstechniken in der geriatrischen Pflege. Konfligierende Logiken bei partizipativer Technikentwicklung“, Vortrag mit Arne Maibaum, „2. Interdisziplinäre Konferenz: Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen“, smartassist, Helmut-Schmidt-Universität: Hamburg.
10/2016: „Assistive Sicherheitstechniken in der Pflege von Menschen mit Demenz – zur Soziogenese und gegenwärtigen Auswirkungen von Pflegetechnik“, Vortrag, Netzwerktreffen Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung; „Mensch-Technik-Interaktion in medikalisierten Alltagen“, Universität Göttingen.
9/2016: „Assistive Sicherheitstechniken in der Pflege von Menschen mit Demenz“, Kurzvortrag und Posterpräsentation, Gemeinsamer Kongress der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie (DGMS) und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie (DGMP): „Gesundheit – bio.psycho.sozial 2.0“ an der Charité Berlin.
04/2016 „Qualitative Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz – inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse“, Workshop zu qualitativen Inhaltsanalyse des Graduiertenkollegs „Innovationsgesellschaft heute“ an der TU-Berlin.
1/2016: „Zur Soziogenese und rezenten Strukturveränderungen von Pflegefigurationen demenziell erkrankter Menschen am Beispiel von innovativen technischen Assistenzen“, Vortrag im Forschungskolloquium von Prof. Marcus Popplow, Institut für Philosophie-, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte (FG Technikgeschichte), Technische Universität Berlin.
9/2015: „Soziogenetische Dispositive als Struktureigentümlichkeiten in der Historischen Soziologie“, Vortrag im Forschungskolloquium von Prof. Nina Baur, Institut für Soziologie (FG Methoden der empirischen Sozialforschung), Technische Universität Berlin.
Lebenslauf:
seit 2018 | Wissenschaftlicher Mitarbeiter / Fachgebietsvertretung am Fachgebiet Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin |
2018 | Auslandsstipendium des Deutschen Akademischen Auslandsdienst (DAAD) (PostDoc Stipendium) / Gastwissenschaftler am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz |
2018 | Wissenschaftlicher Mitarbeiter / DFG-Anschubförderung „Innovationsgesellschaft heute: die reflexive Herstellung des Neuen“ am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin |
2018 | Fellowship und Forschungsaufenthalt am Institute for Social Science (AISSR), Department of Anthropology (programme group Anthropology of Health, Care and the Body), University of Amsterdam, Niederlande |
2018 | Einreichung der Dissertation und wissenschaftliche Aussprache zur Erlangung des Dr. phil., TU Berlin, Fakultät VI, Gesamturteil: summa cum laude" (Gutachter*innen: Prof. Dr. Nina Baur und Prof. Dr. Marcus Popplow). Titel: "Technische Assistenzen in der Altenpflege. Eine historisch-soziologische Analyse des Zusammenhangs zwischen der Geschichte der geriatrischen Pflege und der Forderung nach Pflegeinnovationen" |
seit April 2015 | Stipendiat im DFG Graduiertenkolleg "Innovationsgesellschaft heute: Die reflexive Herstellung des Neuen", TU Berlin |
2014 | Freiberufliche sozialwissenschaftliche Evaluation |
2013 - 2015 | Masterstudium der Soziologie technikwissenschaftlicher Richtung an der Technischen Universität Berlin |
2012 - 2015 | Tutor ohne Lehraufgaben im Fachgebiet Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie im BMBF-Verbundsvorhaben "ASKURIS" ("Anthropogene Spurenstoffe und Krankheitserreger im urbanen Wasserkreislauf: Bewertung, Barrieren und Risikokommunikation") |
2010 - 2014 | Bachelorstudium der Soziologie technikwissenschaftlicher Richtung an der Technischen Universität Berlin |
2005 - 2008 | Bachelorstudium der Altertumswissenschaften an der Freien Universität Berlin |
Preise:
Preis für die beste Masterarbeit 2015 im Studiengang Soziologie technikwissenschaftlicher Richtung